In den Texten auf dieser Seite sind viele Zitate, meist jüdischer Autoren, enthalten. Um die Lesbarkeit der Texte zu verbessern, wurde hier auf Quellenangaben verzichtet. Alle Texte sind dem Artikel „Grundlagen“, der in der Rubrik „Download“ steht, entnommen. In diesem Artikel sind auch sämtliche Zitate und sonstige Anmerkungen mit regelgerechten Quellenverweisen und einem vollständigen Literaturverzeichnis zu finden. Nicht mit der Angabe eines Urhebers versehene Texte stammen vom Autor dieser Abhandlung.

Grundsätzlich wird in den Texten die deutsche Rechtschreibung nach den Regeln des Dudens beachtet. Bei namentlich gekennzeichneten Texten externer Autoren wird deren Schreibweise übernommen.

Gebet und Gottesdienst

Es wurde schon erläutert, wie sich ein praktizierender Jude auf das Gebet vorbereitet. Es geht nicht um die Lederkästchen auf dem Handrücken und vor der Stirn, sondern darum, sich innerlich auf das Gebet einzustellen. Mit dieser Vorbereitung wird der Beter erinnert, dass er jetzt vor Gott tritt. Gebete prägen den Tag eines gläubigen Juden, Gebete prägen den jüdischen Gottesdienst in der Synagoge. Der jüdische Gottesdienst in seiner heutigen Form entwickelte sich nach der Zerstörung des 2. Tempels im Jahr 70 n. Chr. An die Stelle der Opfer, die täglich und zu besonderen Festzeiten im Tempel Gott dargebracht wurden, traten jetzt die Gebete zu den entsprechenden Zeiten.

Der jüdische Gottesdienst hat im Wesentlichen zwei Elemente: Die gemeinsamen Gebete der Gemeinde und die Thoralesung.

Zur Thoralesung wird die Thorarolle feierlich aus dem Schrein, in dem sie verwahrt wird, ausgehoben und zum Rednerpult getragen. Zum Schluss wird sie ebenso feierlich wieder in den Thoraschrein getragen und dort verwahrt. Der Thoraschrein ist in der Regel der Blickmittelpunkt der Synagoge.

Die gemeinsamen Gebete folgen einer festen Struktur, oft als Wechselgebete, sie waren seit Jahrhunderten im Wortlaut festgelegt. Erst seit dem Aufkommen des liberalen Reformjudentums wurde dieser Wortlaut an einigen Stellen angepasst. „Nur sehr selten findet sich im jüdischen Reformgottesdienst das wirklich freie Gebet, das aus der Eingebung der Stunde entsteht und keinerlei Anspruch auf liturgische Verfestigung erhebt. Für die überwiegende Mehrzahl jüdischer Gemeinden und Synagogen aber gilt die Ausschließlichkeit des liturgischen Gebets, wobei sich die Orthodoxie weigert, auch nur die geringsten Änderungen an den traditionellen Texten vorzunehmen.“ Die Auswahl der Gebete für verschiedene Anlässe ist vorgegeben. Predigten sind im Ablauf nicht vorgeschrieben, sind jedoch möglich.

Grundsätzlich war die Liturgiesprache Hebräisch. „Erst mit dem Aufkommen der jüdischen Reformbewegung um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Landessprache zusätzlich oder anstelle des Hebräischen eingeführt.“ Vorbeter und Vorleser kann jeder erwachsene Jude sein, auch die Funktion eines Kantors könnte jeder erwachsene Jude, der (ggf. hebräisch!) lesen und singen kann, ausüben. Wer an weiteren Erläuterungen zum jüdischen Gottesdienst interessiert ist, findet in einer Fußnote des Artikels „Grundlagen“ im Download einen Hinweis auf eine aktuelle, sehr anschauliche Darstellung.

Es gibt außer den gemeinsamen Gebeten natürlich auch das private Gebet des Einzelnen. Das kann formlos, auch als stilles Gebet gestaltet werden.

Für die vielen und ausführlichen Gebete verwendet man ein Gebetbuch (Siddur). In den verschiedenen Hauptrichtungen der jüdischen Religion sind verschiedene Gebetbücher eingeführt, die, abgesehen von den orthodoxen Gemeinden, auch aktualisiert werden können.

Das jüdische Hauptgebet, in der Bedeutung ähnlich wie das Vaterunser für das Christentum, ist die „Amida“. Das Gebet wird auch „Achtzehngebet“ oder „Achtzehnbittengebet“ genannt. Bei diesem Gebet steht die Gemeinde, „Amida“ heißt übersetzt „Stehen“. „Wir stehen während der Amida wieder vor Gott, wie unsere Vorväter vor 3300 Jahren vor dem Berg Sinai gestanden haben. Wir tun das, um nochmals als freie Menschen mit Gott diesen Bund zu erneuern, wie der verlorene Sohn, der zu seinem Vater zurückkehrt.“

An diesem Gebet soll die Besonderheit jüdischen Betens und die Entwicklung der Inhalte erläutert werden. Den vollständigen Wortlaut findet ihr in Anmerkung (J1). Das Gebet variiert zu besonderen Festtagen, wird ergänzt oder nur teilweise gesprochen.

Der erste Abschnitt enthält das Lob Gottes und gedenkt in den Bitten 1 bis 3 in weitem Bogen des Schöpfers und seiner Schöpfung, des Allmächtigen, des Gottes der Erzväter, der sein Volk mit Liebe segnet und den Messias zu senden versprach. Gott ist Herr über Leben und Tod und Herr über die Natur. „Es wird im Winterhalbjahr um Regen, im Sommerhalbjahr um Tau für die Felder und die ganze Natur gebeten.“ Sein Name werde geheiligt.

Im zweiten Abschnitt, das sind die Bitten 4 bis 16, geht es zunächst um das „geistig-seelische Wohl des Menschen“. Es wird darum gebeten, Gott verstehen zu können, man bittet um Einsicht und Verstand. Gott wird als Vater angesprochen. Der Beter bittet, dass Gott ihn immer wieder zu sich und zu seiner Lehre, der Thora, zurückführt. Sünden werden bereut und Gott, der Vater, wird um Vergebung gebeten. Hier zitiere ich die 6. Bitte wörtlich: Verzeihe uns, unser Vater, denn wir haben gesündigt, vergib uns, unser König, denn wir haben gefrevelt. Denn du vergibst und verzeihst. Gelobt seist du, Ewiger, der du gnädig immer wieder verzeihst!

„Danach wendet sich das Gebet dem leiblich-materiellen Wohl zu“. Es wird um Israels Erlösung gebeten: Schaue auf unser Elend, führe unseren Streit und erlöse uns rasch um deines Namens willen, denn du bist ein starker Erlöser. Gelobt seist du, Ewiger, der du Israel erlösest!  Gott wird um Heilung von Krankheit und Leiden und um Segen für die Natur und die Saat gebeten.

In folgenden Bitten geht es um die Zukunft des Volkes Israel (Sammlung des Volkes aus allen Teilen der Welt, Wiedereinrichtung der Gerichtshöfe, Rückkehr der Gegenwart Gottes nach Jerusalem, Wiederaufbau der Stadt, die Wiedereinrichtung des davidischen Königreichs, die Sendung des Messias und die Wiedereinrichtung des Tempeldienstes und des Opferdienstes).

Mit der Gründung des Staates Israel kann jeder Jude nach Israel zurückkehren. Die Stadt Jerusalem ist nie so groß gewesen wie heute. Diesen Realitäten wird in liberalen Gebetbüchern Rechnung getragen, indem der Wortlaut der entsprechenden Bitten der Amida geändert wird. „Da das liberale Judentum auch einer tatsächlichen Wiedereinrichtung des (irdischen) Tempels zu Jerusalem sowie einer Wiedereinrichtung des einstigen Opferdienstes ablehnend gegenübersteht, fehlen in der Amida die entsprechenden Erwähnungen, der Tempeldienst wird durch Gottesdienst, das Opfer durch Gebet ersetzt.“ Die Bitten um Wiederaufbau des Königreichs Davids fehlen. Im liberalen Judentum werden auch als Zeichen der Gleichberechtigung von Mann und Frau in der ersten Bitte nicht nur die Stammväter, sondern auch die Stammmütter erwähnt.

Die Bitte 12, der sog. „Ketzersegen“ (der ja eher eine Verfluchung ist) wird im liberalen und Reformjudentum entpersonalisiert, man bittet „nicht um Vernichtung des Verleumders bzw. des bösen Menschen, sondern um Auslöschung der Verleumdung bzw. der Bosheit. Dies beinhaltet gleichzeitig den Gedanken an Teschuva, der Umkehr zu Gott, die jedem Menschen bis zum Augenblick des Todes offensteht.“

Die letzten drei Bitten (16–19) des Achtzehngebets sind Gebete, in denen Gott gedankt, um seinen Frieden und Segen gebeten wird. Die Amida schließt mit einem Lob Gottes, der sein Volk Israel mit Frieden segnet.      

Die Besonderheit des jüdischen Gebets wird erkennbar: Das Achtzehngebet  wie auch das Sch’ma enthalten nicht nur Lob, Dank, Bitte und Fürbitte, sondern auch Erinnerung und Begründung. „denn du bist ein starker Erlöser – denn du vergibst und verzeihst – denn Gott, König, ein bewährter und barmherziger Arzt bist du. – Gelobt seist du, Ewiger, der du die Verstoßenen deines Volkes Israel sammelst! – Gelobt seist du Ewiger, der du die Feinde zerbrichst und die Trotzigen demütigst. – Denn du erhörst das Gebet deines Volkes Israel in Erbarmen …“ Das waren einige Passagen aus dem Achtzehngebet bei den Bitten um Verzeihung, um Heilung, um Bestrafung der Feinde, um die Zurückführung nach Israel. Jüdische und christliche Religion gehen von der Allwissenheit Gottes aus; es machte wohl wenig Sinn, Gott an sich selbst und seine Taten erinnern zu wollen. Tatsächlich wird mit diesen Passagen der Beter durch die vorgegebenen Texte an die Erfahrungen erinnert, die er und das Volk Israel mit diesem Gott hatten. Im gemeinsamen jüdischen Gebet wird nicht nur im üblichen Sinn gebetet, sondern im Gebet auch gepredigt und erinnert.

Ein Exkurs zum Thema „­Gebet“:

In der Bergpredigt lehrte Jesus das Vaterunser. Seine Zuhörer waren Juden, heute ist dieses Gebet ein Symbol im Christentum. Dennoch bleibt das Vaterunser ein Gebet, welches jeder gläubige Jude von Herzen mitbeten könnte. Alle Bitten des Vaterunsers finden sich in jüdischen Gebeten wieder, fast alle in dem Achtzehngebet. Kürzlich sagte Klaus Wengst in einem Zoom-Meeting, dass selbst orthodoxe Juden kein Problem damit gehabt hätten, gemeinsam mit Christen das Vaterunser zu beten. Andere Juden könnten das nicht, weil das Vaterunser zu einem christliches Symbol geworden sei. Eine jüdische Stimme dazu: „Das Vaterunser ist in diesem Sinn eine kollektive Antwort des Volkes des Bundes auf Gottes Zehn Gebote. Die „Du-Bitten“ im Vaterunser … konzentrieren sich auf die wechselseitigen Beziehungen zwischen Mensch und Gott. Sie spiegeln zugleich die erste Tafel des Bundes. Die „Wir-Bitten“ konzentrieren sich auf die liebevollen Beziehungen zwischen Mensch und Mitmensch im Licht Gottes. Sie spiegeln im Vaterunser die zweite Tafel des Bundes.“

Musik in der Synagoge

Nach der Zerstörung des 2. Tempels war Instrumentalmusik im jüdischen Gottesdienst nicht üblich, auch als ein Zeichen der Trauer. Ausnahmen gab es selten. Biblische Texte aus der Thora und den Propheten werden jedoch seit den ersten Jahrhunderten n. Chr. in einer melodisch akzentuierten Weise vorgetragen, der dem älteren Stil in den frühen christlichen Kirchen ähnelt, die diesen von den Synagogen übernommen hatten.

 „Den Anforderungen des liturgischen Ablaufs entsprechend, die in Religionsgesetzen kodifiziert und durch jahrhundertelange rabbinische Auslegung kommentiert sind, besitzt der traditionelle aschkenasische Synagogenraum zwei zentrale Orte (…). Auf der Ostseite steht der Toraschrein, im Zentrum die Bima mit dem Pult zur Toralesung. Musikinstrumente werden in solchen Synagogen nicht gespielt, nur von zwei Synagogen in Venedig und Prag ist die Existenz einer Orgel im 16. bzw. 17. Jahrhundert überliefert. Auch einen Chor gibt es nicht, der unbegleitete – oder manchmal durch eine Sopran- und Bassstimme begleitete – Gesang des Vorbeters und das gemeinsame Singen der Gemeinde sind nach festen Regeln in den Gottesdienstablauf eingebunden.“ „Der Gesang in der Synagoge, eben das „gesungene Gebet“, bildet den Kern der jüdischen Musiktradition.“

Die Einführung von Orgeln und Chören in den Synagogengottesdienst, die ein Kennzeichen der jüdischen Reformbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts war, veränderte dieses Bild. Mit der Einweihung des Jacobstempels in Seesen 1810 war ein bauliches Vorbild geschaffen, das in der Folge in unterschiedlicher Weise neu interpretiert werden konnte. Das Vorhandensein einer Orgel wurde dabei zum Gradmesser der Reform in den jeweiligen Gemeinden (…).“

In der Folge schufen Komponisten wie Louis Lewandowski, Salomon Sulzer, Eduard Birnbaum und Samuel Naumbourg eindrucksvolle Werke für Chor und Orgel. Viele dieser Werke werden auch von christlichen Gemeindechören gesungen oder könnten gesungen werden. Musik verbindet. Gott zu loben, von ihm zu singen und vor ihn im gesungenen Gebet zu treten: Das vielleicht einfachste Mittel zum gemeinsamen Handeln in der christlichen Ökumene und in Zusammenarbeit im gemeinsamen Auftrag zwischen Juden und Christen.

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