In den Texten auf dieser Seite sind viele Zitate, meist jüdischer Autoren, enthalten. Um die Lesbarkeit der Texte zu verbessern, wurde hier auf Quellenangaben verzichtet. Alle Texte sind dem Artikel „Grundlagen“, der in der Rubrik „Download“ steht, entnommen. In diesem Artikel sind auch sämtliche Zitate und sonstige Anmerkungen mit regelgerechten Quellenverweisen und einem vollständigen Literaturverzeichnis zu finden. Nicht mit der Angabe eines Urhebers versehene Texte stammen vom Autor dieser Abhandlung.

Die Thora

So wie das jüdische Volk eine Geschichte hat, die noch nicht zu Ende geschrieben ist, hat die Thora, die Grundlage jüdischer Lehre, eine bis heute andauernde Geschichte.(D1)

Das jüdische Volk hat von Gott nach biblischem Bericht durch Moses „Gebote“ erhalten. Die fünf Bücher Mose, in denen mit anderen Berichten diese Gebote enthalten sind, werden als „schriftliche Thora“ bezeichnet. „Thora“ wird in der griechischen … Übersetzung der hebräischen Bibel und im Neuen Testament verengt mit „Nomos“, im Deutschen mit „Gesetz“ übersetzt. Doch meint „Thora“ ursprünglich nicht Gesetzeskorpus, sondern meint generell Weisung: Wegweisung zu einem von Gott ermöglichten und geforderten wahrhaft menschlichen Leben.“ Diesen Begriff „Weisung“ hat auch Martin Buber für seine Übersetzung der „schriftlichen Thora“ gewählt: „Die fünf Bücher der Weisung“.

Es ist bis heute nicht sicher, wann und von wem welche Teile des im Christentum so genannten „Alten Testaments“ niedergeschrieben wurden und auf welche Quellen sich dabei gestützt wurde. Ganz grob: In einem langen Entwicklungsprozess, der vermutlich um die Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. begann, wurden die einzelnen Weisungen der Thora in meist hebräischer, teils aramäischer Sprache niedergeschrieben und von Gelehrten kommentiert. Neben die „schriftliche Thora“ trat die „Halacha“ („mündliche Thora“), das gesamte Religionsgesetz der mündlichen Tradition.

In den ersten 500 Jahren n. Chr. entstanden zwei große Sammlungen dieser Kommentare, in Palästina der „jerusalemische Talmud“, in Babylon der „babylonische Talmud“. Der Talmud ist ein großes, viele tausend Seiten umfassendes Werk, das zentrale Bedeutung für jüdisches Verständnis vom Willen Gottes hat. Das jüdische Schriftverständnis gründet sich auf die Thora und auf die Talmudim. Im Talmud wird diskutiert, wie die Weisungen der Thora im realen Leben angewendet werden sollen. Neben der Offenbarung Gottes steht die Vernunft des Menschen, den offenbarten Willen Gottes auszulegen. Zitat eines Rabbiners von heute: „Gottes Wille in der Bibel darf nicht so heilig sein, dass ich nicht mehr Fragen stelle, nicht mehr mit unseren biblischen Quellen hadere.“

Dabei können auch gegensätzliche Meinungen, wenn sie gut begründet sind, nebeneinander stehenbleiben. Im jüdischen Verständnis gibt es nicht „die Wahrheit“. „Jede Ausprägung des Judentums – sei es eine individuelle oder die einer Gruppe – wird so legitim sein wie die andere. Jede Forderung nach der absoluten und einzigen Wahrheit ist ein Beispiel für Fundamentalismus“, so drückte es Rabbiner Gábor Lengyel aus. Vermutlich würde auch diese Aussage von eher orthodoxer jüdischer Seite bestritten werden, denn: „Ein Rabbiner, mit dem niemand streitet, ist kein Rabbiner; ein Rabbiner, mit dem alle streiten, ist kein Mensch!“

Genau wie es keine zentrale Lehrautorität gibt, gibt es im Judentum auch keine zentrale Organisation. Gemeinden sind selbstständig, auch in der Wahl ihres Gemeindevorstands, ihres Rabbiners bzw. ihrer Rabbinerin und ihres Kantors bzw. ihrer Kantorin. Im Staat Israel gibt es zum Teil abweichende Regeln; in Anmerkung (E1) findet ihr dazu eine Erläuterung.

Die 613 Gebote (Mizwot)

Dass die Thora 613 Gebote enthält, ist gängige Kenntnis auch bei christlichen Lehrer*innen. Nur zum besseren Verständnis für nicht jüdische Lehrer/Lehrerinnen in Deutschland werden hier die Gebote der Thora in einer Struktur, die dem deutschen Rechtsverständnis ähnelt, erläutert. Es muss uns bewusst bleiben, dass diese Struktur nicht dem jüdischen Verständnis entspricht, denn die Trennung von Religion, Staat und Privatleben war nicht Grundidee der damaligen Offenbarung.

Dennoch: Mit nur 613 Geboten wurde ein ganzer Staat und eine im Staat verankerte Religionsausübung geregelt: Grundgesetz – Bürgerliches Gesetzbuch – Strafgesetzbuch – Sozialgesetzbücher – Einkommensteuergesetz – Verwaltungsgesetze – Arbeitsrecht – Gesetz über die religiöse Kindererziehung und die vielen Nebengesetze: Alles in 613 Paragraphen!

In aller Kürze soll diese Struktur auch verdeutlichen, dass jeder Vergleich der „so vielen“ Gebote für die Juden mit den „nur“ 10 Geboten, die die Christen brauchen, danebentreffen muss.

Das Grundgesetz: Die Zehn Gebote (Dekalog)

Unsere „Zehn Gebote“ sind nicht ganz die des „Alten Testaments“. Unsere Kirche hat, wie auch andere große Kirchen, das 2. Gebot (Bildnisverbot) nicht übernommen und, um wieder auf 10 zu kommen, das letzte Gebot auf zwei Gebote aufgeteilt.

Die Zehn Gebote, hier „Grundgesetz“ genannt, sind nach jüdischem Verständnis mit der gesamten Thora verbunden, und immer in dieser Bindung zu verstehen.

Zivilrecht

mit Sozialrecht. Besondere Bedeutung kommt dem Fremden- und Armenrecht zu. Dem Volk wird aufgegeben, Fremdlinge nicht zu bedrängen und nicht zu bedrücken, denn „ihr seid auch Fremdlinge in  Ägyptenland gewesen“. Auch Witwen und Waisen sollen nicht bedrückt werden. Der Überschuldete bleibt nicht ungeschützt. In vorbildlicher und sehr simpler Weise wird das Problem der Sozialhilfe gelöst. Gerechtigkeit und Nächstenliebe wird dem Volk Israel immer wieder eingeprägt.

mit Abgabenrecht (Zehnter, Steuer für das Heiligtum). Israel war ein Gottesstaat. Der Stamm Levi hatte kein Land zugeteilt bekommen, weil er religiöse Aufgaben zu erfüllen hatte. Der „Zehnte“ ist eine Abgabe zur Unterhaltung der Priester, Leviten und der Verwaltung. Zusätzliche Almosen werden als freiwillige, aber durch die Religion erwartete Leistung gekennzeichnet.

mit Bürgerlichem Recht (u.a. Eherecht, Erbrecht, Berufs-/(Handels-)recht, Schutz des Eigentums / Ersatzleistungen, Landgesetze)

Schutz des Eigentums: Bei Fahrlässigkeit ist einfacher Schadenersatz die Regel. Bei Schaden durch Diebstahl muss der Dieb zusätzliche Vergeltung in Höhe des Zwei- bis Fünffachen an den Bestohlenen abführen. Das erläutert z.B. das Verhalten des Zachäus (Lk. 19,8).

Das mosaische Gesetz hält den Staat frei vom Aufwand für die Sühnung von Verbrechen. Gefängnisse und Strafabführung an den Staat sind weitgehend unbekannt. Jeder hatte Verantwortung für das Eigentum des Nächsten.

Strafrecht

Gott schafft den Rachegedanken ab. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ führt von orientalischer Rache zu berechenbarer Gerechtigkeit. 3. Mo 24, 19-22 (und andere Textstellen) ist kein Vergeltungsgebot, sondern ein Racheverbot. Wer einem anderen einen körperlichen Schaden zufügt, muss diesem den Schaden erstatten mit Schmerzensgeld, Kosten für medizinische  Behandlungen, Ersatz für ausgefallene Arbeitsleistung: das ist die rabbinische Erläuterung zu diesem Gebot. Noch nie ist einem Täter ein Auge oder ein Zahn entfernt worden, weil dem Geschädigten ein Auge oder ein Zahn beschädigt oder ausgeschlagen wurde!

Verwaltungsrecht

Gerechtigkeit ist oberster Leitsatz. Richter und Amtsleute sollen unbestechlich sein. Der Oberste Gerichtshof fällt Grundsatzentscheidungen aufgrund von Präzedenzfällen – ähnlich wie im angelsächsischen Recht.

Sakralrecht

Regeln für Gebete, Feste, Schabbat, Gottesdienst, Opfer, Götzendienst, u.a.m.

Das Religionsrecht ist mit fast 300 Geboten der mit Abstand umfassendste Teil des Gesetzes. Aus dieser Gewichtigkeit können wir ableiten, dass Israel als Theokratie, als Gottesstaat, konzipiert war. Über allem steht das Gebot der Gottesfurcht.

Regeln für die Lebensführung

Mit den Regeln für die Lebensführung und die Reinheitsgebote greift Gott tief in das tägliche Leben seines Volkes ein. Diese Regeln werden dem Volk gegeben, weil es ein heiliges Volk ist. Es soll sich anders verhalten als andere Völker. Es soll sich daran erinnern, dass es ein auserwähltes Volk ist. Es muss nicht immer die Logik dieser Regeln, aber den Willen Gottes hinter diesen Regeln erkennen. Viele dieser Regeln werden von orthodoxen Juden (und zum Teil auch von anderen Hauptgruppen des religiösen Judentums) auch heute noch als gültig angesehen.

Nochmals: Diese Zusammenfassung entspricht nicht jüdischer Auffassung! In der kurzen schlaglichtartigen Betrachtung einiger Bereiche des Gesetzes Moses sollte vermittelt werden, dass diese Gesetzgebung von Gott dafür vorgesehen war, sich ein heiliges, ganz anderes Volk zu schaffen. In diesem Volk sollten Verständnis füreinander, Ehrfurcht vor Gott, Nächstenliebe und Gerechtigkeit die wesentlichen Tugenden sein.

Mit der Einführung juristisch nicht zu greifender Forderungen wie Liebe, Nächstenliebe (wobei ein fremder und bedürftiger Mensch ganz unerwartet zum Nächsten wird), Gerechtigkeit statt starrem Recht setzte sich die Thora deutlich von Auffassungen der umliegenden Völker, aber auch von den verschiedenen hellenistischen Philosophierichtungen ab. Nicht das „Ich“, sondern das „Du“ bekommt Bedeutung: „Liebe deinen Nächsten, er ist wie du“ – eine vielleicht dem hebräischen Grundtext nähere Übersetzung. Ob „Liebe“ angeordnet werden kann, blieb in der rabbinischen Diskussion und bleibt hier offen.

Heute gehören die meisten dieser Gebote zu den „unbenutzten“ Geboten. Mit der Zerstörung des Tempels endete Priester- und Opferdienst und das Gelten der meisten Vorschriften des Sakralrechts. Mit der Zerschlagung des Staates Israel wurden Strafrecht, Verwaltungsrecht und große Teile des Zivilrechts nicht mehr anwendbar. „Ein übereifriger frommer Jude findet vielleicht hundert Gebote, die sich auf unser heutiges Leben anwenden lassen. Ein Jude, der zwei Dutzend Hauptgebote hält, gilt schon als orthodox“ : Zitat eines nach eigenen Angaben gesetzestreuen jüdischen Schriftstellers. Die Rabbinen lehren, dass sich jeder Jude nach den Gesetzen des Staates richten muss, in dem er lebt. Jedes der Gebote kann bei Lebensgefahr gebrochen werden mit Ausnahme der drei Verbote des Götzendienstes, des Blutvergießens und des Inzests.

Anmerkung: Matthäus irrte übrigens in seiner Wiedergabe der Bergpredigt mit „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.“ Den Feind zu hassen, wird im Alten Testament nirgends geboten. Jesus kannte die Thora genau, er hätte diesen Fehler nicht gemacht.

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