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Wer ist Jude? Es gibt viele Bücher jüdischer Gelehrter, die sich mit dieser Frage beschäftigen. Es gibt genauso viele verschiedene Antworten. Es wird versucht, der Frage auszuweichen, indem man sie anders stellt: was ist ein Jude? Aber auch diese Frage bleibt unbeantwortet.[i]

Eine einfache Antwort auf die Frage „Wer ist Jude? wird oft aus dem Rückkehrgesetz des Staates Israel abgeleitet. In diesem heißt es in § 1: „Jeder Jude hat das Recht, nach Israel einzuwandern“. In § 4b diese Gesetzes ist seit 1970 definiert: Im Anwendungsbereich dieses Gesetzes bedeutet „Jude“, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder zum Judentum übergetreten ist und kein Mitglied einer anderen Religion ist[ii]. Das Gesetz hat keine Bedeutung für Menschen, die nicht nach Israel einwandern wollen. „Nicht immer … war die jüdische Mutter Grundvoraussetzung für das Judesein des Kindes. Noch im 1. Jhdt. wurde größeren Wert auf dn jüdischen Vater gelegt … (vgl. Apg 16,1-3). Doch seit rabbinischer Zeit, d.h. nach Zerstörung des Tempels im Jahr 70, hat sich das matrilineare Prinzip allgemein durchgesetzt.“ [iii]Diese Definition wird auch von verschiedenen Konfessionsgruppen innerhalb der jüdischen Religion nicht beachtet.[iv]

Juden sind keine Menschen einer besonderen Rasse! Diese unheilvolle Fehldeutung, die zu den verhängnisvollen Rassegesetzen des Nationalsozialismus und zu der Shoah geführt hat, darf nicht wieder ernsthaft erwogen werden. Wie auch immer der Begriff Rasse definiert wird, es gibt keine biologisch bestimmbaren Menschenrassen. Auch wenn, besonders in den USA[v], der Begriff „Rasse“ im Zusammenhang mit Menschengruppen benutzt wird (Schwarze, Weiße, Asiaten, nordamerikanische Ureinwohner, Hispanier): Juden lassen sich noch nicht einmal in diesen überholten und verqueren Einordnungen einer Rasse zuordnen.[vi]

Sind Juden eine Sprachgemeinschaft? Die alte hebräische Sprache ist tatsächlich eine gemeinsame Grundlage für die jüdischen Gottesdienste. Die Thora, aus der in jedem Gottesdienst vorgelesen wird, ist in dieser Sprache geschrieben und überliefert und verbindet die religiös engagierten Juden. Allerdings wird diese Sprache von ganz wenigen verstanden und gesprochen. Die Landessprache im Staat Israel ist Neu-Hebräisch, sie hat viele Bezüge zu der alten hebräischen Sprache, ist aber mit dieser nicht identisch. In Israel lebt weniger als die Hälfte der weltweit gezählten Juden. Die Antwort: Juden sind keine Sprachgemeinschaft, obwohl ein Teil der Juden eine gemeinsame Sprache spricht.

Sind Juden eine Religionsgemeinschaft? Oberflächlich betrachtet könnte man diese Frage mit Ja beantworten. Tatsächlich ist etwa die Hälfte aller weltweit gezählten Juden jedoch nicht religiös, sie setzen niemals einen Fuß in eine Synagoge. Dennoch ist die jüdische Religion eng mit jüdischer Geschichte, mit jüdischen Erfahrungen und Schicksalen verknüpft. Ich lasse die Antwort offen.

Aus autobiografischen Notizen eines bekannten jüdischen Psychologen einige erhellende Passagen: „Mein Judentum ist nicht im Glauben begründet. Doch unterlag meine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk nie dem geringsten Zweifel: Sie war mir immer selbstverständlich.… Unsere Kinder tragen jüdische Namen. Von ihrer Umwelt werden sie wohl einmal als Juden wahrgenommen werden. Den Juden selbst gelten sie als Nichtjuden, denn ihre Mutter ist keine Jüdin. Wo werden sich unsere Kinder zugehörig fühlen? Müssen wir diese Frage für sie beantworten? Sollen wir, dürfen wir sie ihnen überlassen? Wären wir verpflichtet, klare Verhältnisse zu schaffen? Vorläufig sind die Fragen meines vierjährigen Sohnes noch sehr einfach. Was das sei, ein Jude, will er wissen. Ich erkläre ihm, ich selber sei Jude, ein Angehöriger des jüdischen Volkes. Und Mama fragt, fragt er weiter, ist aber auch jüdisch? Nein, sage ich Mama ist christlich, nicht jüdisch. Was bin dann ich, ist seine nächste Frage. Du wirst dich einmal selber entscheiden müssen, was du sein willst, antworte ich ihm. Ich weiß es schon, sagt er abschließend, ich will ein Handwerker sein.“[vii]

Sind Juden eine Nation?

Nein, jedenfalls nicht im Sinne des Völkerrechts: die Nationalität eines Menschen richtet sich nach seiner Staatsbürgerschaft. Der Staat Israel hat 9 Millionen Einwohner, davon sind drei Viertel Juden. Etwa 25 % der Menschen mit israelischer Staatsbürgerschaft sind keine Juden. Mehr als 60 % aller Juden weltweit sind keine Bürger des Staates Israel.

Ja, im Verständnis vieler Juden, die ein anderes Verständnis für den Begriff Nation haben. Zitat eines jüdischen Schriftstellers: „ Eine Nation sein, heißt für andere Völker vor allem, in einem Land zu leben. Für die Juden ist das Kennzeichen ihrer Nation die Zeit. Sie traten erstmalig nicht an einem bestimmten Ort auf – denn sogar ihr Stammvater war ein Nomade -, sondern zu einem bestimmten Zeitpunkt, bevor sie irgendein Stück Land ihr eigen nennen konnten.“[viii]

Sind Juden eine Schicksalsgemeinschaft oder Erfahrungsgemeinschaft?[ix] Auch diese Frage ließe sich mit Ja und Nein beantworten. Ein Großteil der heute lebenden Juden ist in der Erinnerung mit Schicksalen und Erfahrungen der Vergangenheit verbunden und definiert das Jude-Sein aus der gemeinsamen Geschichte. Schicksalsgemeinschaft hieße aber auch, dass man gemeinsam schicksalsträchtige Geschichte erlebt hätte. Ich will diese Begriffe im Raum stehen lassen.

[i] vgl. Fackenheim, 1999, 42

[ii] www.knesset.gov.il; The Law of Return 5710 (1950); Übersetzung aus dem Englischen FP.

[iii] Stemberger 1995. 11

[iv] Im Reformjudentum in USA gilt auch das Kind eines jüdischen Vaters als jüdisch. Ähnlich hat das oberste Gericht Israels im Fall Chalit entschieden (zu Details vgl. Catane, 1990).

[v] Aktuell wieder in den Dashboards der John-Hopkins-Universität zur Coronapandemie als Gruppierungsmerkmal verwendet. www.coronavirus.jhu.edu

[vi] vgl. dazu die Ausführungen des Richters Silberg im Chalit-Verfahren (Catane, 1990, 90).

[vii] Hurwitz, 1991. 72 f.

[viii] Wouk, 1984. 32

[ix] vgl. Küng, 1991, 44-47

 

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